21. Juni – 26. Juni

Heute werden wir den Höhepunkt der Reise 2023 erreichen. Die Fahrt wird anstrengend sein, weil ein Hitzetag prognostiziert wurde. Bei derart intensiver  Sonneneinstrahlung fühlt man sich auf dem Boot wie eine Wurst in einer Bratpfanne. 

Die Route nach Berlin planten wir gestern auf den PC Navigo, das Navigationsprogramm für die Sportschifffahrt. Trotz der neusten Updates schlug das Programm eine Route durch den Berliner-Spandauer Schifffahrtskanal vor, der aber für Sportboote gesperrt ist. Die Informationen über die Schleusen und Brücken blieben aus. Überhaupt reagierte das PC Navigo schwerfällig. So ärgerlich ist das!

09:30, Motor an, Leinen einziehen, aufschiessen, Fender aufs Deck legen und los geht’s. Die Stadtgrenze Berlin ist bald erreicht, da Henningsdorf nahe an ihr liegt. Wir verlassen die Havel. Über die Schleuse Spandau gelangen wir in die Spree. Eine aufregende Fahrt durch Berlin beginnt. Es folgen die Charlotten und die Mühledamm Schleuse. Im Teltowkanal erreichen wir den Hafen Tempelhof.  Die Fahrt dauert sieben Stunden. Die meiste Zeit verbringen wir vor den drei Schleusen. 

Seesighting durch Berlin mit dem eigenen Boot:

Nur ein paar Schritte vom Hafen Tempelhof entfernt befindet sich die U-Bahnstation Ullsteinstrasse. Wir lösen einen 5-Tagespass für den öV. Er wird als erstes für die Fahrt zum Bauhaus eingesetzt. Die spezielle Architektur, Design und Kunst fesseln uns immer wieder. Einiges davon haben wir in verschiedenen  Ausstellungen auf unseren Bootsreisen seit 2016 angetroffen. Aus dem Besuch des Bauhaus-Archivs wird nichts. Eine Baustelle liegt vor. Das Bauhaus-Archiv wird denkmalgerecht saniert und um einen Neubau erweitert. Das 1979 eröffnete Haus ist aufgrund des Wachstums der Sammlung seit langem zu klein und entspricht nicht mehr eines modernen Museumsbetriebs. Hätten wir doch uns kurz im Internet informiert und der Weg wäre uns erspart geblieben!

Den Kurfürstendamm erreichen wir vom Bauhaus-Archiv in ein paar Gehminuten und begegnen dabei dem stattlichen Bau der CDU. Die schicken Boutiquen im KaDeWe sind eine Augenweide. Die kostspieligen Auslagen werden von Bodyguards in feinen Anzügen streng bewacht. Trotz der verlockenden Angebote in den Shops bleibt der Kaufrausch bei uns auf kleinem Niveau.

Wir werfen einen Blick in die Gedenkhalle. Sie war ursprünglich die Eingangshalle der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche. Im Zweiten Weltkrieg 1943 wurde sie zerstört. Zurückgekehrt zum Boot, eile ich mit Nikki zum nahen Park, umrunde den verschlammten Teich und beschleunige meine Schritte, denn der Wind zieht an. Blitze durchzucken den Himmel, Donner grollen und die schweren Wolken entladen sich. Geschützt im Boot tobt sich das Unwetter über uns aus. 

Der Wunsch von Felix ist, in der gläsernen Reichstagskuppel zu wandeln. Wir reihen uns ein. Eine lange Wartezeit unter glühender Sonne ist in Kauf zu nehmen. Zwei Angestellte erscheinen und verkündigen, dass die Besichtigungen ab sofort eingestellt werden. Keine Auskunft über die plötzliche Schliessung erfolgt.

Wir spazieren im Regierungsviertel und bleiben beim Speaker stehen, der für die Entnazifizierung und Entmilitarisierung referiert. Er richtet sich gegen die Demokratie – äusserst gefährlich. Eine grosse Menschenmenge bewegt sich im Regierungsviertel und am Brandenburger Tor. Die Special Olympics World Games werden ausgetragen. Radrennfahrer drehen ihre Runden auf abgesperrtem Terrain. In einem Restaurant ergattern wir einen freien Tisch. Von hier hat man einen ausgezeichneten Blick über das Geschehen auf den Platz.

Warum die Reichstagskuppel Mitte Nachmittag geschlossen wurde erfahren wir am Abend aus der Tagesschau von ARD. Der Wagner-Chef Prigoschin bewegte sich mit seiner Söldner-Truppe Richtung Moskau. Eine Sitzung fand hinsichtlich des bedenklichen Vorfalls im Reichstag statt. Deshalb waren die Kuppel und der Plenarsaal aus Sicherheitsgründen für die Öffentlichkeit gesperrt.

Felix und ich schlagen heute getrennte Wege ein. Er bricht auf zum Stasi-Museum, der ehemaligen Zentrale der Stasi. Hier gibt es Einblicke in Observierungstechnik, Berichte der Opfer, Dokumentation des Widerstands in der DDR und in die Büroräume des Chefs Erich Mielke.

Mich zieht es zum Potsdamer Platz. Jahrzehnte lang bot er ein tristes Bild – zerbombtes und freigeräumtes Brachland. Nach dem Mauerfall entstanden spektakuläre Gebäude, wie z.B. das Sony-Center. Pinke und aufgebockte Rohre durchziehen den Potsdamer Platz. Sie dienen zur Baustellenentwässerung.

Im Regen marschiere ich zur Neuen Nationalgalerie. Die Sonderausstellung »100 Werke für Berlin« von Gerhard Richter und die Kunstsammlung der Gesellschaft von 1900 – 1945 sehe ich mir an. Die »One Year Performance 1980 – 1981« von Tehching  Hiseh befremdet mich. Ein Jahr lang zu jeder vollen Stunde stempelte er eine Zeitkarte ab. Parallel nahm er ein Selbstporträt auf, was insgesamt 8760 ergab. Dazu schloss er sich ein in einer Zelle ein. Den Schlüsse bewahrte ein Anwalt auf. Wie hält ein Mensch das aus!

Noch nicht müde von der Kunst, suche ich das Kunstgewerbemuseum auf. Es birg Möbel, Kleidung, Gold- und Silberarbeiten, Porzellan und Glassobjekte vom Klassizismus über den Jugendstil bis hin zur Moderene.

Der Potsdamer Platz wartet ebenfalls mit einem Kauferlebnis auf. Im Mall of Berlin  treffe ich 270 Geschäfte unter einem Dach an und in der Potsdamer Platz Arkaden über 100. Da wird die Wahl fast zur Qual!

Im Mall of Berlin gibt es keine Bodyguards. Das Stöbern durch die Shops fällt einen leichter. Die Artikel sind erschwinglich auch für schmale Geldbeutel.

Wie 2017 brechen wir auf zum sonntäglichen Flohmarkt im Mauerpark. Es fällt auf, dass kaum Reisende in der U-Bahn nach Eberswaldstrasse sind. Woran liegt das? In der Station Klosterstrasse haben alle Verbleibende auszusteigen. Eine Baustelle sei das Hindernis, klärt uns eine Berlinerin auf. Bis zur Endstation fährt die U-Bahn eingleisig hin und her. So verweilen wir eine halbe Stunde in der musealen U-Station. 22 grosse Emailletafeln an den Wänden dokumentieren die Geschichte des öffentlichen Verkehrs in Berlin. Zwischen den Treppen guckt ein Triebwagen aus dem Jahr 1910 hervor.

Der Markt wirkt sauberer als 2017. Die Ware wird an einheitlichen Ständen feilgehalten. Auf langen Tischen ist Krimskrams ausgebreitet. Secondhandkeider dominieren das Angebot. Um den Markt erstreckt sich eine Grünfläche mit jungen Bäumen, die wohlwollenden Schatten für Picknicks spenden.

Am fünften Tag in Berlin reisen wir mit der U1 Richtung Warschauerstrasse. Die Wagons sind rappelvoll mit Reisenden. Die Luft ist stickig. Im schlesischen Tor steigen wir aus und gehen zu Fuss weiter über die klotzige Oberbaumbrücke. Am 21. Juni sind wir hier mit dem Boot auf der Spree durchgefahren. 

Das East Side Mall, neben der Daimler-Benz-Arena und Zarlando haben wir auf dem Radar. Es wurde 2018 eröffnet. Das Mall im Ufo-Stil unterlag heftiger Kritik der Presse. Kolumnen erschienen mit den Titeln »Kann man’s bitte wieder abreissen?« und »Ein Ort urbaner Hoffnungslosigkeit«. Innen wird es farbig ausgeleuchtet. In der Foodmeile im zweiten Obergeschoss wählen wir ein Mittagessen aus verschiedenen Ländern. Um weiterhin gemütlich in der Stadt zu flanieren, ist es zu schwül und zu gewittrig.

Endlich, ein heftiges Gewitter bring Abkühlung. Sobald der Regen etwas nachlässt, rennen wir von der Station Ullsteinstrasse zum Boot, weil die Seiten des Verdecks aufgerollt und die Luken offen sind. Geradezu nachlässig von uns! Mit Lappen, Schwamm und Kübel sind wir einige Zeit im Boot beschäftigt.

Morgen werden wir die trendige Metropole Berlin mit ihrer aussergewöhnlichen Vergangenheit verlassen. Vielleicht gibt es ein Wiedersehen im 2024.