22. Mai bis 31. Mai
Ein Flusshotelschiff beabsichtigt im Hafen Usedom gegenüber von uns anzulegen. Das bei einem Pegel von knapp einem Meter! Gespannt schauen wir dem Manöver zu. Der Bug ragt am Schluss ins Schilf. Einige Passagiere steigen aus und nehmen in einem Car Platz. Das Hotelschiff legt ab, wühlt Schlamm auf und gibt den Wasserweg frei für unsere Rückfahrt zum Peenestrom.
Wir hatten abgemacht im Freet den defekten Heizkörper in der Achterkabine zu ersetzen. Er tropft aufgrund des unfachmännischen Winterfestmachens. Der Klempner hat keine Zeit und der Termin wird gestrichen. Eine Plastikschale schieben wir unter den Heizkörper. Der Schaden kann warten bis zur nächsten Wintereinlagerung.
Wir sind jetzt frei für das nächste Vorhaben, nämlich die Flusslandschaft Peene – Amazonas des Nordens. Das Peenetal in der Mecklenburger Schweiz ist weitgehend unverbaut und naturbelassen. Die Peene durchfliesst auf ihrem Weg vom Kummerower See bis zu Peenestrom auf einer Länge von annähernd 100 Kilometer, eines der grössten zusammenhängenden Moorgebiete Europas. Teilflächen des Moors wurden im 19. Jh. entwässert für landwirtschaftliche Nutzung und Torfstecherei. Ab 1992 begann die Renaturierung des 200 km² grossen Niedermoors. Die Tier – und Pflanzenwelt entwickeln sich vielversprechend.
Einfahrt in Flusslandschaft Peene – Amazonas des Nordens
Vor der Eisenbahnbrücke in Anklam, die erste Stadt im Peenetal, halten wir Ausschau nach einer Anlege im Seesportclub Anklam. Ein Mann, der am Jäten ist, weist uns ein. Der Hafen stammt aus der Epoche der DDR. Männer hantieren an ihren Booten in den Schuppen.
Im Steintor aus dem Jahr 1450 erfahren wir die bewegte Geschichte der Stadt. 1243 trat Anklam der Hanse bei. Im Dreissigjährigen Krieg wurde die Stadt hart umkämpft von kaiserlichen und schwedischen Truppen. Die nordischen Kriege brachten ebenso Leid und Not. Danach folgte die Pest. Im 19. Jh. siedelten sich aufgrund des Bahnanschlusses Fabriken an. 1930 wurde Anklam erneut Garnisonstadt. In einem Zweigwerk der Arado Flugzeugwerke wurden Komponente für Kampfflugzeuge hergestellt. Im 2. Weltkrieg griffen die Alliierten die Hansestadt massiv an. Die grösste Zerstörung richtete die eigene Luftwaffe an, wenige Tage vor Kriegsende. 80 % der Stadt lag in Schutt und Asche. Schlichte Wohnblocks in DDR-üblicher Nachkriegsbauweise wurden errichtet. 1990 begann die Wiederherstellung und Rekonstruktion alter Gebäude. So hatte Anklam einwenig vom ehemaligen Glanz zurückerhalten.
Einer der ganz Grossen der Technikgeschichte wurde 1848 in Anklam geboren: Otto Lilienthal. 1891 gelang dem deutschen Maschinenbauingenieur die ersten sicheren Gleitflüge. Seine Methode übernahmen Flugpioniere in aller Welt. Er markierte den Beginn des Zeitalters des Menschenflugs. Die Stadt feiert seinen 175. Todestag. So kommen wir in den Genuss einer Extra-Führung im Museum Otto Lilienthal. In der zerbombten Nikolaikirche, die Taufkirche von Otto Lilienthal, sind weitere Fluggeräte ausgestellt. Zur Feier gibt es für jeden Besucher Kaffee und Kuchen. Anklam nennt sich nebst Hansestadt auch Lilienthalstadt.
Die Eisenbahnbrücke Anklam öffnet lediglich zu wenigen Zeiten. Pünktlich um 09.20 heb sie hoch und lässt uns durch. In der Peene ist das Festmachen einzig an ausgewiesenen Stellen gestattet. Dies sind die Häfen, die bewirtschafteten Wasserwanderrastplätze und die nicht bewirtschafteten Rastplätze. Letztere kommen nicht infrage, weil unser Boot schlicht zu gross ist. Da momentan Nebensaison ist, finden wir ohne Probleme geeignete Plätze. Den nächsten Stopp legen wir im Wasserwanderrastplatz Alt Plestlin ein, umgeben von der einzigartigen Natur.
Bei unserem Streifzug treffen wir auf einen Gutshof. Er stammt aus 1850. Der jetzige Eigentümer des schlichten Herrenhauses erzählt uns die Geschichte des Gutshofes. Das Gut mit seinen Ländereien wechselte mehrmals die Besitzer. 1945 wurde es enteignet. Gegen 45 Flüchtlinge zogen ins Herrenhaus ein. Die grossen Räume wurden in kleine Wohnungen unterteilt. Die Sowjets schlugen die Pilaster an der Fassade weg. Sie schliffen den Balkon über der Eingangspforte. Der Schlosspark, das Verwalterhaus und die Pförtnerhäuschen verwildern zunehmend. In den Stallungen auf der Westseite werden Pferde gehalten. Ostseitig sehen wir Brandruinen, des einst stolzen Wirtschaftsgebäudes. Nach der Wende gingen die Ländereien wieder in Privatbesitz über. Am verwahrlosten Herrenhaus war das Interesse klein. Der jetzige Eigentümer kaufte es zu günstigen Konditionen. Er führt uns durch die Räume, die sorgfältig restauriert sind. Wir hängen regelrecht an seinen Lippen, weil seine Schilderung uns äusserst fasziniert.
Wir wasserwandern auf der Peene bis zur Stadt Demmin und legen im neuen Hafen an. Hier liegen Charterhausboote. Über Pfingsten ist die Hafenanlage geschlossen aufgrund des Personalmangels. Die Hafenmeisterin öffnet die Sanitäranlage extra für uns. Welch ein Privileg!
Die Hansestadt Demmin durchlebte im 17. und 18. Jh. die gleichen kriegerischen Zeiten wie Anklam. Das grausamste Schicksal ereilte die Bewohner am 30. April 1945. Nach der Einnahme durch die Sowjetarmee wurde die Stadt zur Plünderung freigegeben. Besonders die Frauen und Mädchen hatten zu leiden. Als die Kampftruppen abzogen, brannten sie die Stadt nieder. Über 1000 Einwohner nahmen sich das Leben. Die meisten waren Frauen und Kinder. Der Aufbau erfolgte mit Häuserzeilen in schlichter DDR-Zweckarchitektur. Nach der Wende wurde der Marktplatz neu gestaltet. Die Wohnblocks wurden farbiger oder wichen Neubauten. Wie durch ein Wunder blieben einige historische Bauten vom Krieg verschont.
Erst neun Uhr und wir passieren schon die Kahldenbrücke. Die nächste Öffnung wäre um 12.50. Der Fluss Peene schlängelt sich durch das Naturreservat. Die Fahrt ist geruhsam und doch fesselnd. Beim Restaurant Aalbude fahren wir in den glatten Kummerower See ein. Eine geeignete Anlege, für unser 12-Meter-Boot im Hafen Gravelotte zu finden, gestaltet sich schwierig. Die Plätze sind für kleinere Boot ausgerichtet. Wir legen längs an einem gemauerten Steg an. Ein sonderlicher Hafenmeister in grünem T-Shirt, grüner Mütze und auf grünem Fahrrad sucht uns auf. Sein Blick verheisst nichts Gutes. Er verlautet: „Ich spreche nur mit dem Kapitän. Beim Einfahren des Hafens müssen Sie sich telefonisch anmelden, ist Vorschrift in Deutschland. Der Platz ist besetzt. Sie können auf die andere Seite verholen.“ Wir entschuldigen uns für das Übersehen der kleinen roten Tafel.
Auf einer geteerten, schmalen und hügeligen Strasse radeln wir 5,4 km durch grosse Getreidefelder nach Verchen Aalbude. Am Morgen sind wir mit Boot vorbeigefahren. Die Personenfähre setzt uns rüber zur Gasthof Aalbude. Sie ist bis auf den letzten Stuhl besetzt. Das Personal scheint am Anschlag zu sein. Wir essen zu Mittag. Ein Paar, welches sich zu uns gesellt, gibt den Hinweis, unbedingt zum Ausguckturm zu gehen. Der Abstecher lohnt sich. Der Blick über das Feuchtgebiet ist überwältigend. Ein gelbes Meer an Blüten eröffnet sich vor uns. Die Personenfähre bringt uns zu den Fahrrädern am anderen Ufer zurück und auf gleichen Weg radeln wir zum Hafen Gravelotte. Eine Tasse Kaffee trinken wir am liebsten im Boot. Es geht nichts über einen Kapselkaffee von Nestlé.
An der Hafenmole unter der Abschlusskante nisten Schwalben. MY De Swel versperrt ihnen den Zugang zu ihren Nestern, die sie am Bauen sind. Die Schwalben erbarmen uns. Das Geflatter ist nicht mehr auszuhalten. Wir fahren um 09.00 weg. Die Überquerung des Krummerower Sees ist behaglich. Im Neukalener Peenekanal zeigt der Tiefenmesser des Bootes nichts mehr an. Felix meint 30 cm hätten wir immerzu unter dem Kiel. Im Hafen Neukalen nimmt uns der Hafenmeister freundlich in Empfang.
Zu Fuss sehen wir uns Neukalen (1’700 Einwohner) an, die sich offiziell Peenestadt nennen darf. Sie konnte den Charakter einer mittelalterlichen Stadt mit engen Gassen in heimischer Umgebung bewahren. Die Sauberkeit fällt uns auf, wie auch in den Orten, die wir bereits durchstreift hatten. Das Hafenrestaurant wirbt auf Tafeln für süsse, deutsche Köstlichkeit. Widerstehen? Nein, heute nicht.
Im schmalen Kanal fahren wir zurück in den Kummerower See und südwestlich zum Peenekanal, der zur Stadt Malchin (ca. 7300 Einwohner) führt. Kein weiteres Boot ist unterwegs. Im Hafen Köster Eck Malchin ist De Swel das einzige Gastboot.
Malchin durchlief kriegerische Zeiten wie die Städte Demmin und Anklam. Im 2. Weltkrieg wurde Malchin systematisch zerstört. Es kamen massive Übergriffe auf die Bevölkerung. Über 500 Menschen nahmen sich aus Verzweiflung das Leben. Die Innenstadt lag in Trümmer. Schmucklose Häuserzeilen wurden nach dem Krieg aufgezogen. Ab 1990 wurden die alten Häuser im Stadtkern und das Rathaus (1842) saniert oder durch Neubauten ersetzt, die den historischen ähneln. Die beiden Stadttore (15. Jh.) und die Backsteinbasilika St. Johannis (1430) beeindrucken einen.
Ich stehe mit meinem Fotoapparat vor dem stolzen und leeren Bahnhofgebäude und bewundere die reich verzierte Fassade. Was mich stutzig macht, ist die zunehmende Verwahrlosung. Fenster sind eingeschlagen, das Mauerwerk bröckelt ab und Sprayer hinterliessen überall ihre Spuren. Der Grund des architektonisch aufwendig gestalteten Bahnhofs mag darin bestanden haben, dass die Direktorin der Friedrich-Franz-Eisenbahn bis 1870 ihren Sitz in Malchin hatte. Ein Buschauffeur spricht mich an und bekundet, er sei wütend über den schlechten Zustand des Bahnhofs. Für alles hat man Geld, aber nicht für die Erhaltung der historischen Bauten. Er ist mit der jetzigen Regierung unzufrieden und wettert heftig über sie. Ich frage mich, warum zog die Verwaltung keinen Zaun um den Bahnhof, um wenigsten die Vandalen abzuhalten.
Die Peene durchfliesst den Stadtpark von Malchin als ein unscheinbares Flüsschen. Sie ist ab dem Hafen Köster Eck bergwärts nicht mehr schiffbar.